Anbetung gemäß dem Buch
Gib einmal in Google den Begriff “Worship Wars” (dt. “Anbetungskrieg”) ein, und du wirst unzählige Artikel und Einträge zu diesem Thema finden. In der renommierten, amerikanischen, christlichen Wochenzeitung Christianity Today allein fast 20 Artikel über die letzten 10 Jahre unter dieser Rubrik (Online Ausgabe). Aber auch hier zulande herrscht in so manchen Gemeinden der ständige Konflikt, welche Musik und welcher Stil in den Gottesdiensten Vorrang haben soll, damit auch die jüngere Generation und Gäste sich angesprochen fühlen. Wenn es zum eigenen Musikgeschmack und -vorliebe kommt, wird so manches Gemeindeglied sehr empfindlich. Es geht ja zuletzt um die Musik, mit der “ich” authentisch und von Herzen anbeten und “worshippen” kann! Gerade in unseren Freikirchen tun sich immer wieder neue Entwicklungen in der Kontemporalisierung der musikalischen Gestaltung auf.
In Mitten des Wirrwarrs der unterschiedlichen Stimmen in den ‘Worship Wars’ hat 2002 der amerikanische Theologe Don Carson ein Buch herausgegeben, in dem er versucht biblisch-theologische Antworten und Orientierung zu diesem Thema zu geben: Worship by the Book (Zondervan, 2002) [dt. “Anbetung gemäß dem Buch”]. Nach einer sehr ausführlichen Einführung (52 Seiten) dazu, was die Bibel über Anbetung und Gottesdienst lehrt (also einer Biblischen Theologie von Anbetung und Gottesdienst), lässt Carson den Anglikaner Mark Ashton, den Freikirchler R. Kent Hughes und den Presbyterianer Tim Keller, jeweils aus deren eigenen Prägung und Überzeugung her, das Thema biblisch beleuchten.
Die einzelnen Beiträge zeigen klar auf, dass es ganz bestimmt keine uniforme Antwort gibt, wie Anbetung in unseren Gottesdiensten basierend auf der Lehre der Bibel auszusehen hat. Und doch gibt jedes der Kapitel so manches zu bedenken, was sich in unseren Gottesdiensten (sei es in der Brüdergemeinde, Freikirche, oder gar Landeskirche) als der sogenannte “Anbetungsteil” etabliert hat. Carson stellt auf Grund von gründlichen biblischen Überlegungen in Frage, dass “Anbetung” mehr und mehr in den Mittelpunkt des Gottesdiensten gerückt wird, wenn doch für uns als jene, die unter dem Neuen Bund leben, Anbetung das ganze Leben ausmachen sollte und nicht nur eine halbe oder drei-viertel Stunde am Sonntag während dem Gottesdienst! In dem folgenden Zitat aus Worship by the Book beschreibt Carson, was David Peterson in seinem sehr empfehlenswerten Buch Engaging with God (Apollos, 1992) dazu zu sagen hat.
Das Buch, das vielleicht am dringendsten zur bedächtigen Beurteilung [der modernen Auffassung von ‘Anbetung’] aufruft ist die biblisch-theologische Studie, die David Peterson verfasst hat. Sein wichtiges Buch verfolgt nicht nur die Entwicklung von Anbetung im Alten Testament, sondern streicht auch den klaren Kontrast hervor, den das Neue Testament darstellt. Peterson beharrt darauf, dass angefangen mit Mose das Herzstück der Anbetung im Alten Testament zuerst mit der Stiftshütte und dann mit dem Tempel verbunden war. Aber was dann im Neuen Testament heraussticht ist nicht nur, dass Jesus ausdrücklich angebetet wird und dass die theologischen Impulse der neutestamentlichen Dokumente viele der alttestamentlichen Themenstränge in Jesu Person zusammenführen (somit ist er der Tempel, der Priester, das Passahlamm, das Brot des Lebens) und dadurch notwendigerweise alttestamentliche Muster der Anbetung umwandeln, sondern dass die Sprache der Anbetung nun den Locus weg von einem Platz oder einer Zeit zu dem gesamten Leben überträgt. Anbetung ist nicht länger etwas, was mit Festzeiten wie dem Passahfest verbunden ist; oder einem Ort, so wie dem Tempel; oder einer bestimmten Priesterschaft, wie dem [priesterlichen] System der Leviten. Anbetung ist jetzt etwas für das ganze Volk Gottes zu jeder Zeit und an jedem Ort, und sie ist eng damit verbunden, wie sie leben (vgl., Röm. 12, 1-2). . . . Eine der Folgen ist, dass wir uns nicht vorstellen können, dass die Gemeinde sich am Sonntag Morgen zum Gottesdienst (engl. ‘worship’) trifft, wenn wir damit meinen, dass wir uns in diesem Moment mit etwas befassen, womit wir uns den ganzen Rest der Woche nicht befasst haben. Die Terminologie der Anbetung unter dem Neuen Bund schreibt beständige “Anbetung” vor. Peterson untersucht deshalb aufs Neue, warum sich die neutestamentliche Gemeinde dann überhaupt versammelt und kommt zu dem Schluss, dass der Fokus [bei den wöchentlichen Zusammenkünften] auf gegenseitiger Erbauung liegt und nicht auf Anbetung. Unter den Bedingungen des Neuen Bundes, findet Anbetung zu allen Zeiten statt, eingeschlossen auch dann wenn das Volk Gottes sich versammelt. Aber gegenseitige Erbauung findet nicht ständig statt, es findet statt, wenn Christen sich versammeln. Erbauung ist die beste Zusammenfassung davon was im gemeinsamen (eng. ‘corporate’) Gesang, Bekenntnis, öffentlichem Gebet, dem Dienst am Wort, und so weiter und so fort geschieht. (Carson, 23-24; eigene Übersetzung)
Dieser Auszug aus Carsons Buch spricht für sich selbst. Er lässt uns ganz neu überdenken: Wozu kommen wir wöchentlich zu unseren Gottesdiensten zusammmen? Ist es ausgerechnet die Musik und Anbetung, bei der unsere Bereitschaft der gegenseitigen Erbauung aufhört, weil wir so auf uns selbst fixiert sind und dem, was uns in unserer persönlichen Anbetung am besten dient? Sind wir in den “Anbetungszeiten” unserer Gottesdienste lauter Individualisten, die nur einen Gedanken haben: “Wie kann ich heute am besten anbeten”? Was tun wir dafür, dass unsere Gottesdienste wirklich der gegenseitigen Erbauung dienen? Leben wir, wenn es zum Thema Anbetung kommt, immer noch unter dem Alten Bund, wo Anbetung an Zeit und Ort gebunden ist?