Selbst-Interview: Gehörst du auch zu diesen Hinterwäldler-Kreationisten? – Hanniel

Original veröffentlicht am  von Hanniel.ch mit freundlicher Genehmigung.

Kürzlich fand eine gut besuchte Konferenz zur Schöpfungstheologie kreatikon 2019 statt. Die Vorträge sind onlineidea.de berichtete davon. In den sozialen Medien haben sich “progressive Christen” ausgetobt. Ich habe mir einige Fragen zu meiner eigenen Überzeugung gestellt.

Darf man das Paradigma (noch) anzweifeln?

Die Naturwissenschaft ist nach wie vor der Hauptgötze für alles, was das öffentliche Leben betrifft. Das erlebe ich im Alltag mit meinen Kindern. Deren Kollegen gehen selbstverständlich von einer festen Grösse «Naturwissenschaft» aus, die «alles» zu erklären vermag. Dieses Bild transportieren die Medien. Wir sind es uns gewohnt, ihre Begründungsmuster auf andere Fachbereiche zu übertragen.

Wissenschaft lebt doch vom Widerspruch.

Ich bin der Letzte, der meine Augen vor der Schöpfung meines Vaters verschliessen will. Jedoch weiss ich um meine Beschränkung und – noch viel mehr – meinen Eigenwillen durch die Sünde.

Genau da verlassen wir die Grenze naturwissenschaftlicher Erkenntnis und betreten die Sphäre des Glaubens. Bist du unfähig diese Unterscheidung zu treffen?

Die Moderne ist von einer Zweiteilung gekennzeichnet. Da wird zwischen dem öffentlichen und privaten Raum unterteilt. In theologischen Begriffen ausgedrückt: Gnade ist von der Natur getrennt.

Die Methoden in der Beobachtung der Natur und in der Erforschung der Bibel unterscheiden sich. In beiden Bereichen handelt es sich jedoch letztlich um Glaubensannahmen, spätestens wenn es um das Woher und das Weshalb geht. Der heutige Stand ist schlicht: Die Natur hat die Gnade verschlungen. Es gibt jedoch nur einen Herrn der gesamten Wirklichkeit.

Ist das nicht peinlich, Vertreter der Schöpfungstheologie zu sein?

Das ist meines Erachtens der Hauptgrund für viele Christen in einer schamorientierten Gesellschaft, ihre Position zu wechseln. Nur keine Minderheitsposition vertreten! Scham lässt immer auf Gruppendruck bzw. eine abweichende dominante Leitidee schliessen. (Das bedeutet nicht, dass ich «Märtyrertum» liebe und absichtlich eine exotische Position vertrete.)

Ist das nicht düsteres Mittelalter?

Ich frage zurück: Wer hat dein Bild des Mittelalters geprägt? Wohl die Lehrbücher der Schule? Das Mittelalter ging von einem offenen Universum aus. Ich bin überzeugt, dass viele Menschen aus dem Mittelalter uns heute sagen würden: Moderne? Gruselig. Ich meine damit nicht nur die Betonbauten und die Grossstädte. Ich meine das geschlossene Weltbild und die verheerenden Folgen missbrauchter Technologie. Am deutlichsten wird das Gruselige im Mord an ungeborenen Kindern.

Gehörst du auch zu denen mit fundamentalistischem Bibelverständnis?

Der Begriff Fundamentalismus ist diffus. Es bedeutet Bindung an eine externe Autorität. Daran kommt jedoch kein Mensch vorbei. Jeder Mensch trifft Glaubensaussagen, zumindest gelebte.

Der Befund ist einfach überwältigend.

Es ist überwältigend, wie das gesamte öffentliche Leben ein Paradigma internalisiert hat. Schulbücher, Museen, Dokumentarfilme – wir sind von klein auf «indoktriniert». Dabei gibt es drei Ebenen der Wahrnehmung. Zuerst das konkrete Einzelereignis, z. B. einen Knochenfund. Dann die Einordnung in ein Gesamtes. Innert Sekunden entsteht in einem Dokumentarfilm ein braunes Riesentier. Das ist jedoch eine Modellierung. Drittens die weltanschaulichen Vorannahmen, die es steuern: Vor x Jahren… Letztlich stossen wir stets auf diese dritte Ebene vor. Wir Menschen können gar nicht anders, als nach den Zusammenhängen zu fragen!

Man muss doch Evolutionismus und Atheismus voneinander trennen.

Ich glaube nicht, dass dies das richtige Vorgehen ist nach über 100 Jahren, in denen die Metaphysik – also die Frage nach Gott und dem Sein – verpönt war. Atheismus war nicht nur Treiber in der Forschung der letzten Jahrzehnte (übrigens im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten, in denen gerade der christliche Glaube der Antrieb für zahllose Erfindungen war). Unsere inneren Einstellungen sind auf «Atheismus» programmiert. Wir leben im Alltag so, wie wenn es Gott nicht geben würde.

Auf welche Experten verlässt du dich?

Das ist eine der wichtigsten Frage. Welches Argument hat dich am Ende überzeugt? Welche Person(en) trugen dazu bei? Die Komplexität eines Modells sagt noch nichts über richtige Vorannahmen aus. Die Wissenschaftler sind unsere Priester. Kein Wunder werden die Redner einer Schöpfungskonferenz verächtlich hinterfragt. Sie haben nicht die Weihen der öffentlichen Mehrheit empfangen.

Du willst doch nicht allen Ernstes sagen, dass Kurzzeit-Kreationismus plausibel sei.

“Plausibilität” ist abhängig von der vorgelagerten Plausibilitätsstruktur. Diese ist nun mal dominant naturalistisch eingefärbt. Das hat ein Teilnehmer der Diskussion schön ausgedrückt: «Eine Geschichte mit magischen Bäumen und einer sprechenden Schlange ist natürlich viel plausibler.» Wir gehen mit unseren unbewusst naturalistisch geprägten Vorannahmen an den Bibeltext heran. Auf diese Weise werden wir niemals beim Schöpfungsbericht bleiben. Nach Genesis 2 kommt Genesis 3.

Wurde der Kurzzeit-Kreationismus in der Theologiegeschichte nicht schon lange vorher angezweifelt?

Das ist richtig. Schon die Kirchenväter, welche mit der griechischen Philosophiegeschichte vertraut waren, äusserten den Gedanken der Entwicklung. Viele Theologen haben während Jahrhunderten über der Frage gerungen.

«Ich finde es oft quälend, wenn der großartige Hymnus der Schöpfung (1. Mose 1) mit Gewalt in eine Art kümmerliche Naturgeschichte gepresst und gegen die Naturwissenschaft ins Feld geführt wird. Wir sollten in den Hymnus einstimmen und die Menschen überzeugen, dass er sie zutiefst betrifft. Am Anfang schuf Gott die Welt und am Ende wird er Frieden schaffen. Warum soll ich mir da diese Gefangenenkugel des Kreationismus ans Bein binden?» Wie liest du die Schöpfungsberichte?

Die vergangenen Jahrzehnte waren in der Theologie von der Erforschung der unterschiedlichen Genre geprägt. Dafür bin ich sehr dankbar. Gegenwärtig müssen wir darauf achten, nicht von der anderen Seite vom Pferd zu fallen. Vor lauter Betonung der Vielfalt sollten wir nicht die Einheit des Textes übersehen. Genesis 1 ist tatsächlich kunstvoll und theologisch intentional angeordnet. Für reine Poesie reicht es jedoch nicht – und schon gar nicht für einen mythologischen Bericht. Es geht um einen Schöpfer, der diese Wirklichkeit aus dem Nichts hervorgebracht hat.

«Es steht doch nichts da, wie er geschaffen hat. Die Evolutionstheorie beschreibt einen Vorgang, durch den sich das geschaffene Leben entwickelt hat, vom Einzeller über den Mehrzeller bis zu so hochspezialisierten Geschöpfen wie wir Menschen es sind. Warum sollte Gott diese Entwicklung nicht gesteuert haben?»

Die Bibel berichtet, dass Gott sprach und es dastand (Psalm 33) und dass er das Nichtseiende hervorgerufen hat (Römer 4). Die ersten Kapitel stellen uns den ersten Menschen als erwachsenen, entscheidungsfähigen Menschen vor. Da ist kein Platz für Leben durch Tod. Ohne Metaplan des Evolutionismus käme man nie auf den Gedanken einer langsamen Entwicklung!

Was hältst du von der Lückentheorie?

Es ist ein möglicher Ansatz, der mich exegetisch jedoch nicht überzeugt. Manchmal wird eingewendet: «Der Mensch kann sich vermutlich gar nicht vorstellen wie viel ‘Zeit’ Gott hat.» Einzelne haben die Idee von Arbeitstagen Gottes. Das kann man jedoch gerade so gut umkehren: «Der Mensch kann sich gar nicht vorstellen, wie schnell Gott Verhältnisse ändern kann.»

Es gibt doch viele bibeltreue Theologen, die auch an die Evolution glauben.

Das ist richtig. Timothy Keller ist einer der bekanntesten. Auch wenn ich viel von ihm profitiert habe, vermag er mich mit seinen exegetischen Argumenten nicht überzeugen. In dieser Hinsicht spricht er einfach wie ein Grossstädter des 21. Jahrhunderts. Ich würde jeden Theologen fragen, wer ihn in seiner Entscheidung letztlich beeinflusste und was sein «Wendepunkt-Erlebnis» in dieser Hinsicht war.

Weiterlesen: In der Buchbesprechung “Der Streit um den Anfang” habe ich verschiedene Ansätze einander gegenüber gestellt.

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