Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. – Adolf Schlatter

Auf dem Dachboden unseres Gemeindehauses habe ich eine Erstausgabe von Adolf Schlatters Andachten gefunden. Aus diesem Schatz möchte ich immer wieder kleine Beiträge posten.

 Das andere Gebot ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. – Mt 22,39.

Es ist eine froh machende und stärkende Gewissheit, dass ich meine Pflicht nicht mit eigener Wahl aussuchen und selbst erst entdecken muss. Deinem Nebenmann gib deine Liebe, sagt mit Jesus, dem, den Gott zu dir geführt und neben dich gestellt hat. Die selbstherrliche Verfügung über den Verlauf meines Lebens ist mir damit genommen. Denn mein Nächster ist ohne mein Zutun da. Wir wurden zusammenfeührt durch die Hand, die unser beider Leben regiert, und damit, dass er mein Nächster ist, ist meiner Liebe das Ziel gegeben und meine Pflicht mir gezeigt. Darf ich sie dadurch von mir weisen, dass ich sage, es sei doch nur ein Zufall, dass gerade dieser mein Nächster sei? Dem Priester und Leviten, die durch die Wüste am halbtoten vorbei nach Jericho gingen, gestattet es Jesus nicht, zu sagen, dass nur ein Zufall sie zu dem geführt habe, der ihrer Hilfe bedürftig war. Sie haben ihn freilich nicht gesucht, als sie ihre Wanderung antraten. Aber gerade deshalb, weil nicht ihr eigener Wille diese Begegnung herbeiführte, entsprang aus ihr die heilige Pflicht, die sie nur dann abweisen können, wenn sie die Regierung Gottes verachten, die in allem wirksam ist. Wenn ich nicht gottlos denken will, sondern auf Gottes Hand achte, kann ich nicht vom Zufall reden, wenn er meinen Weg zu dem hinlenkt, der meiner Liebe bedarf. Auch dann, wenn ich mit eigenem Willen und freier Wahl den anderen zu mir ziehe und zu meinem Nächsten mache, stehen wir beide unter der Regierung Gottes, da unser handeln an Bedingungen gebunden ist, die nicht wir selber setzen. Dadurch wird meine Pflicht heilig, dass ich sie nicht von mir aus bestimmen kann, sondern durch die mir gesetzte Lage empfange. So ist sie ein Anspruch, der von oben herab zu mir kommt und meinen Gehorsam mit der Unbedingtheit des göttlichen Gebots verlangt. Wie leicht wird mir aber zugleich mein Dienst gemacht! Er wäre schwer, müsste ich mich auf die Fahrt machen, um die zu entdecken, die ich lieb haben darf. Hier aber habe ich nichts erst zu suchen. Sie sind mir ja nah und da, die von Gott neben mich Gestellten.Müsste ich ein Programm für mein Leben entwerfen und es nach meinen Plänen ordnen, wie käme dabei etwas anderes heraus als stetes Schwanken und immer neue Unsicherheit? Nun aber lautet das mir gegebene Gebot: tue, was die Stunde fordert; gib dem, der neben dir steht, das, was du ihm geben kannst, dieselbe Schätzung, wie dir selbst, die Gabe, die dein eigenes Leben nährt und füllt.

Ich will dir, Vater, von Herzen danken, dass mich dein süßes Gebot aufweckt, wenn ich in mir selbst versinke und niemand in meine Nähe lasse und auch die nicht sehe, die meine Nächsten sind. Wenn dein Gebot kräftig zu mir spricht und die Eigensucht, die mich einsam macht, verscheucht, dann finde ich Tag um Tag Pflicht und Dienst in reicher Fülle. Dafür sei dir Lob und Dank gesagt Tag um Tag. Amen. 3. September S.253

 

2 Antworten

  1. Harry sagt:

    Es ist interessant, dass dieses Gleichnis meist von jener Seite betrachtet wird, dass der Nächste jener sei, der überfallen wurde. Dabei dreht der Herr Jesus die Frage des Schriftgelehrten gerade um (Luk. 10,36): “Was meinst du, wer von diesen dreien DER NÄCHSTE DESSEN gewesen ist, DER UNTER DIE RÄUBER GEFALLEN WAR?”
    Mit anderen Worten: der Nächste ist im Gleichnis derjenige, der die Barmherzigkeit übte und daher geliebt werden sollte.
    Da das Gleichnis sehr oft als Argumentation dafür verwendet wird, sozusagen Nächstenliebe an jedermann zu üben, sollte sich der Leser fragen, ob nicht doch das am Sinn bzw. der Aussage des ganzen Gleichnisses vorbeigeht!?

  2. admin sagt:

    Danke für den Beitrag. Du hast ganz recht, dass Jesus die Frage der Schriftgelehrten umdreht. Trotzdem ist die Auslegung richtig, da Jesus in 10,37 das Verhalten des Nächsten uns zum Vorbild setzt. Luk10,37 “… Da sprach Jesus zu ihm: So gehe hin und TUE DESGLEICHEN! ” Jesus dreht es in so weit um, dass er sagt “Sei DU dem Bedürftigen der Nächste.” Womit ja schon die Nächstenliebe an jedermann gelehrt wird. Diese Auslegung passt auch sehr gut ins gesamt Zeugnis der Schrift, wenn man sich die Verse über die Versorgung von Witwen und Waisen ansieht egal ob im Alten oder Neuen Testament.

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